Wenn ich neu an ein Theater komme, dann will ich es mit allen Sinnen erforschen und kennenlernen.
Schon bevor ich anfange, lese ich über das Haus, über die Künstlerinnen und Künstler die dort gearbeitet haben. Über seine Geschichte.
Irgendwann ist dann der große Moment, an dem ich das erste Mal das Haus betrete. Das erste Mal einen Blick auf die Bühne werfe, von der Bühne in den Zuschauerraum schaue.
Hier in Dortmund bin ich zum Beispiel einen Tag vor dem offiziellen Start schon mal durchs Haus geschlichen. Ich war so neugierig und konnte es kaum erwarten. Und dann stand ich ganz alleine auf der leeren Bühne. Niemand aus der Technik oder anderen Gewerken des Theaters in der Nähe. Ein besonderer Moment, da sonst eigentlich immer etwas los ist, jemand unterwegs ist und dieser Raum eigentlich nie menschenleer und still ist.
Viellicht muss man heute auch sagen: war.
Dann beginnt meine Entdeckungsreise. Dieses Haus ist so groß und verwinkelt, dass ich noch nicht sehr weit gekommen bin – aber auch hier habe ich schon ein paar Kuriositäten entdeckt. Auf der Suche nach einem Weg vom Schauspiel zur Pforte in der Kuhstrasse bin ich neulich zum Beispiel in einer Sackgasse gelandet, wo neben Baukleber und einem verrottenden Stuhl ein Skelett am Boden lag….Hat sich da vor Jahren jemand verlaufen und fand nicht zurück? Oder ist es ein Außenlager der Requisite?
Irgendwo finde ich meistens auch noch einen Raum der Öffentlichkeitsarbeit, in dem alte Fotos, Programmhefte oder Spielzeithefte lagern.
Und so einen Raum wollte ich auch in Dortmund finden. Ein Archiv, in dem ich die Dinge anschauen und anfassen kann, die von der flüchtigen Kunst Theater geblieben sind.
Und obwohl diese Dinge ja als Erinnerung und Dokumentation da sein sollten, war hier die Möglichkeit für mich nur ganz flüchtig, nur ein kurzer Augenblick, ein kleines Zeitfenster.
Nachdem ich erfahren habe, dass es eine Notenbibliothekarin gibt, die sich auch mit ums Archiv kümmern soll – eine Aufgabe die niemand so gerne übernehmen möchte und die ihr dann einfach mit aufgedrückt wurde – habe ich den Kontakt zu Ihr gesucht.
Meine liebe Kollegin Hannah wollte den Kontakt herstellen und plötzlich erhielt ich einen Anruf mit den Worten: Hast Du heute Nachmittag Zeit? Du kannst jetzt – aber nur noch heute Nachmittag – einen Blick auf die Dokumente im Archiv werfen….
So. Es war halb Drei. Ich wollte die Kinder von der neuen Schule abholen und hatte um 16.30 ein Fototermin für unsere Ensemble-Portraits…
Schnell die Kinderbetreuung umorganisiert, ein Sprint ins Theater und so kam ich um 15 Uhr ins Foyer im Opernhaus um einen Blick aufs Archiv zu erhaschen.
Vor mir standen gut 50 Umzugskartons. Sofort kam die Erinnerung an meinen Umzug vier Wochen zuvor, als ich in Tübingen 100 Kartons gepackt hatte um sie hier in Dortmund wieder auszupacken.
Diese Kartons sollten nicht mehr ausgepackt werden, sind standen da um in einen Lagerraum im Niedersachsenweg gebracht zu werden. Auf Nimmerwiedersehen?
Was für ein Glück ich hatte, diese Kartons überhaupt zu sehen und wie klein, zufällig und flüchtig das Zeitfenster tatsächlich war, habe ich dann von der Bibliothekarin Kerstin erfahren.
Im Zuge eines Umbaus waren in irgendwelchen Kellerräumen die Fotos, Programmhefte und Spielzeithefte aufgetaucht. Ein großes, wildes Durcheinander.
Als nun im Frühjahr die Theater geschlossen wurden, war plötzlich die Zeit und auch der Raum, sich dieses großen Durcheinanders anzunehmen. So haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Kurzarbeit abwenden können: sie haben Dinge für die sonst nie die Zeit ist – und die vielleicht auch nicht unbedingt in ihrem sonstigen Aufgabenbereich liegen – erledigt.
So wurde im Foyer der Oper über Tage, vielleicht Wochen hinweg, sortiert und geordnet. Zuerst nach Spielzeiten, dann nach Sparten. Überall lagen Fotos, Programmhefte, Spielzeithefte, Theaterzeitungen, Zeitungsartikel herum, die dann, fein säuberlich geordnet und beschriftet, in einen Umzugskarton kamen.
Man kann sagen, eine Spielzeit passt in etwa einen Umzugskarton.
Soviel bleibt also von einem Jahr Theater übrig.
Diese Kartons sollten nun zum Spielzeitbeginn abgeholt werden.
Die Jahre 1887-1965 waren schon vor der Sommerpause ins Stadtarchiv gewandert.
Die neueren Jahre – wohl weniger begehrt – sollten eben nun einfach ins Lager wandern.
Die Umzugsfirma hatte für Freitag 14.08.2020 die Abholung angekündigt. Am Vormittag.
Zu meinem Glück sind da unterschiedliche Berufsfelder aufeinander geknallt:
Die Theatermitarbeiterin verstand unter Vormittag ab 10 Uhr – die Umzugsfirma 7 Uhr morgens. Nun da war noch keiner da.
So sollten die Kartons bis Dienstag bleiben.
Und am Montag rief eben meine Kollegin Hannah an und so entstand dieses flüchtige Zeitfenster.
Nur Corona hatte also dafür gesorgt, dass diese Dokumente überhaupt sortiert und zugänglich waren, und nur die unterschiedlichen Vorstellungen was denn „Vormittag“ heißt hatten mir ermöglicht einen Blick darauf zu werfen.
In Windeseile flog ich also durch die Kartons und machte Fotos.
Am Dienstag morgen kam ich noch einmal – in der Zwischenzeit hatte ich mir überlegt, dass 50 Jahre doch ein guter Rahmen wären und ich mich mit der Spielzeit 1970/71 beschäftigen wollte.
Und während ich mich durch die Kiste arbeitete kamen die Herren der Firma Buttkereit um die Kartons mitzunehmen.
Und das flüchtige Zeitfenster schloss sich.
Aber es reichte aus, um 50 Jahre zurückzureisen und einen Blick in die Spielzeit 1970/71 zu erhaschen!
Zu dieser Zeit war ich noch nicht geboren, aber einen der Schauspieler, der damals neu in Dortmund engagiert war, habe ich später während meines Studiums in München auf der Bühne gesehen….
Ziemlich genau vor 50 Jahren, nicht in der Spielzeit 1970/71 sondern 3 bis 4 Jahre vorher, war meine Mutter in Dortmund im Theater. Das habe ich auch nie gewusst und nur erfahren, weil ich ihr von meiner Recherche erzählt habe.
Aufgewachsen in Hamm hatte sie eine engagierte Lehrerin, die mit einigen Schülerinnen nach Dortmund in die Oper gefahren ist. Und noch heute weiß meine Mutter, wie es sich damals angefühlt hat in Dortmund anzukommen. Ins Große Haus in die Oper zu gehen. Dort hat sie nichts verstanden und kann sich auch an nichts mehr erinnern. Aber es war wahnsinnig toll!
Und ich habe im August genau diese Programmhefte, Fotos und Spielzeithefte in der Hand gehalten.
Vielleicht habe ich ein bisschen verstanden. Auf jeden Fall war es toll!
Dortmund im September 2020